Forchtenberg 1588–1662 Schwäbisch Hall

Elfenbein

Höhe: 27,2 cm

Detailbeschreibung

Provenienz:


Erworben in den 1960 er Jahren in Belgien durch
Professor Michael Jaffé CBE (1923-1997), Cambridge,
Direktor des Fitzwilliam Museum, University of Cambridge,
von 1976-2016 als Leihgabe im Museum Cambridge

 

Bei der Betrachtung dieser Elfenbeinskulptur ergibt sich als erstes die Frage, wer in der Gestalt des bärtigen Greises dargestellt ist. Es könnte Ugolino della Gherardesca sein, der mit seinen beiden Söhnen und zwei Enkelkindern in einem Turm zu Pisa den Hungertod starb, - sein Schicksal schildert Dante in der göttlichen Komödie. In diesem Fall wäre das Bildwerk nur Teil einer Gruppe. Auch Saturn kommt in Betracht, als Allegorie der „Zeit“, dem prophezeit war, dass er von einem seiner Söhne entmachtet werden würde und der daraufhin seine Kinder – die „Jahre“ - verschlang. Das Problem der Identifizierung des Dargestellten ergibt sich, weil das Attribut, das die Figur in der Linken hielt, offensichtlich verloren ist. Die Frage ist aber nur scheinbar ein Rätsel: Saturn erscheint in der Kunst regelmäßig, zum einen als seine Kinder verschlingendes Ungeheuer, zum anderen aber eben auch mit dem Attribut einer kleinen Sichel, mit der er - der Legende nach - seinen eigenen Vater entmannt hatte. Hier wird der Mythos, wie im Barock durchaus geläufig, frei variiert. Die Sichel bedroht somit das Leben des Kindes in der Hand des Zeitgottes Saturn, der in der römischen Mythologie der Gott der Aussaat war, jedoch schon früh mit dem griechischen Kronos identifiziert wurde.

Das Bildwerk ist nicht signiert. Das ist bei Leonhard Kern nicht ungewöhnlich. Durch zahlreiche für die Bildsprache Lk’s typische stilistische Charakteristika ist die meisterhafte Kleinskulptur dem Werk jedoch eindeutig zuzuordnen. Ein Detail jedoch, ist unverwechselbar wie eine Signatur des Meisters zu betrachten: Die sog. Sonne, der sorgfältig ausgearbeitete kreisrunde Haarwirbel mit sichelförmigen Strähnen am Hinterkopf des Saturn. An vielen gesicherten Werken wiederkehrend begegnet uns diese spezielle künstlerische Gestaltung des Kopfhaares.

 

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Der hochgewachsene, noch nicht von den Jahren gebeugte oder altersmüde Greis steht auf dem linken Bein, das rechte leicht vorgesetzt, den Rumpf nach links drehend, mit der Rechten am gerade herabhängenden Arm ein kleines Kind haltend, die Linke am angewinkelten Arm die -verlorene Sichel - greifend, um die Lenden ein reichgefaltetes und geschürztes Tuch.

Bildnerischer Höhepunkt des Kunstwerks ist das nach oben gewendete Haupt mit aufgerissenen Augen, zu Schrei oder im Stöhnen geöffneten Mund und üppig ge-lockten, am Ende zweigeteilten Vollbart.
Hier zitiert Kern unverkennbar Einzelheiten vom Haupt der Mosesfigur von Michelangelo, ein Phänomen, das im Barock in zahllosen Werken zu beobachten ist.

Das Leiden, der Schrecken, auch das Aufbegehren gegen seine unausweichliche Bestimmung, zur eigenen Rettung seine Kinder zu vernichten, sind in diesem Antlitz eingefangen. Das Grausame der Darstellung wird in der Wiedergabe des kleinen Jungen sichtbar: Mit gelösten Gliedern, offenbar schlafend, hängt er in dem lieblos zupackenden Griff des Alten. Das Kind ist wie ein willenloses Opfertier, das zum Altar geschleppt wird, mit ausgebreiteten Gliedmaßen wiedergegeben.

Kern gelang es, diese dem Greis vom Schicksal aufgebürdete Not nicht nur in dessen Antlitz, sondern in der gesamten Haltung der Figur zum Ausdruck zu bringen. Die Skulptur ist für die Betrachtung von allen Seiten angelegt. Sie erscheint aus jedem Blickwinkel, aus dem man sie betrachtet, vollendet. Das bringt die verstärkte Wirkung des dramatischen Geschehens mit sich. So ist die kunstvolle Drehung des bewundernswert modellierten Körpers kein Abwenden vom Kind, das er zu töten gezwungen ist, sondern mehr noch das sich winden in seiner Not und Qual.

Es ist die Verbindung von virtuos beherrschter Technik der Elfenbeinschnitzerei mit dem zum Äußersten gesteigerten theatralischen Ausdruck der Figur, die es bedingen, dieses Werk des Leonhard Kern als eines der Glanzstücke barocker Kleinplastik anzusehen.

Theuerkauff setzt eine Bronzefassung des Saturns mit dieser Elfenbeinfassung in Abhängigkeit oder umgekehrt. Diese 26,2 cm hohe Bronzefigur befindet sich im Kunsthistorischen Museum in Wien. Vergleiche außerdem mit der Abraham-Isaak Gruppe aus Alabaster im KHM Wien und mit einer Elfenbeingruppe Abraham Isaak (mit getrennten Sockeln gearbeitet) in Privatbesitz.

Literatur:
C. Theuerkauff, 'Addenda und Anmerkungen zum Katalog der Ausstellung »Leonhard Kern (1588-1662)« in Schwäbisch Hall', in: H. Siebenmorgen (ed.), Leonhard Kern. Neue Forschungsbeiträge, Sigmaringen, 1990, S. 38-43, Abb. 5.